Archiv für den Monat Juni 2015

25 Jahre Mauerfall – Ein Rückblick auf die Außenseiter der DDR – Ausreiseantrag

Göttingen – »Anders sein. Außenseiter in der DDR« ist eine Themenreihe, die sich eine kleine Gruppe des Beruflichen Gymnasiums, kurz BGT, zur Aufgabe gemacht hat. Wir wollen hier kleine Artikel zu folgenden Themen veröffentlichen:

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Unser heutiger Artikel berichtet über:

Die Schikanen, die ein Ausreisesuchender über sich ergehen lassen musste

Am 25. November 2014 wurde es den Schülern der BBS II zum vierten Mal ermöglicht, anhand eines Vortrags, sich Bärbel Großes Geschichte vor Augen zu führen.

Frau Große erzählte sehr detailliert mit kleinen Einblicken aus ihren Stasi-Akten ihr Leben und wie es zu Ihrer Inhaftierung kam. Dabei erzählte sie sehr eindrucksvoll von ihren Erfahrungen mit der Staatssicherheit, die sie des Öfteren aufsuchte.

2014-25 Jahrfeier in Berlin, Bärbel ganz rechts

2014-25 Jahrfeier in Berlin, Bärbel ganz rechts

Frau Große entschied sich mit ihrer Familie einen Ausreiseantrag zu stellen. Nachdem sie zum einen westdeutsche bzw. holländische Freunde gewonnen hatte, die die Buchmesse in Leipzig besuchten und zum anderen verhindern wollte, dass ihr Sohn eines Tages an der Innerdeutschen Grenze stehen müsse und auf „Deutsche“, die fliehen wollen, schießen muss.

In den 70iger Jahren stellte sie daher für ihre ganze Familie zum ersten Mal einen Ausreiseantrag. Ab da fingen die Schikanen ihr und ihrer Familie gegenüber an. Anfang der 80iger Jahre wurde Bärbel Große mit ihren Freundinnen verhaftet, die ebenfalls aus der DDR ausreisen wollte. Sie kamen gerade von den Behörden aus Prag zurück. Jede musste nun für sich allein, die Vernehmungen und Haftzeit überstehen. Interessanterweise wurden die Familien nicht inhaftiert. Frau Bärbel Große bekam die längste Haftzeit, da ihre Schreibmaschine für alle Beteiligten zur Ausführung einer Straftat benutzt wurde. Die Ausstellung der Anträge und erstellen von diversen Schreiben erfolgte eben auf dieser Maschine. Bärbel war mehr als neun Monate von ihrer Familie getrennt.

Die STASI versuchte einen Keil zwischen Bärbel, Ehemann und Kinder zu schieben und machte sie schlecht. Das DDR-Regime zog alle Register um zu verhindern, dass die ganze Familie, die DDR weiterhin verlassen wollte.

Frau Bärbel Große kam nach monatelanger Untersuchungshaft in das Frauengefängnis Hoheneck. Diese Zeit war für Bärbel die schlimmste. Sie saß in einer Gemeinschaftszelle mit 12 Kindesmörderinnen und nur sechs “politisch Gefangenen”, wie Republikflüchtlinge oder Ausreisewillige genannt wurden. Sehr eindrucksvoll schilderte sie die wochenlange Pflege von “Ilse”, die uns unter die Haut ging…

”Wie können Menschen, Menschen das antun?”

– diese Frage beschäftigte wohl gerade in dieser Phase ihrer Erzählung jeden….

Interessant war auch, dass Bärbel uns erzählte, dass es in der DDR angeblich keine Kindesmörder, keine Nazis, keine Behinderten und auch keine Homosexuellen gegeben habe. Wie konnte es also sein, dass gerade in Hoheneck solche Gruppen neben den politischen Gefangenen, die die DDR nur verlassen wollten oder für ihre Rechte eingetreten waren, in Haft saßen. Das DDR-Regime „log“ um seine Bevölkerung über viele Missstände hinweg zu täuschen.

Sehr emotional wurden ihre Erzählungen, als es endlich Richtung Westen ging. Mit  einem “Westbus” wurden auch andere politische Flüchtlinge über die Grenze gebracht. Während sie die Grenzen überquerten  hörten sie einen Hit von Udo Jürgens mit dem Titel “Alles im Griff”. Auffällig war hier, dass alle politischen Flüchtlinge und Ausreisewilligen vom gleichen Rechtsanwalt Dr. Vogel sprachen, der den Transport in den Westen zum einen begleitete und immer für alle Flüchtlinge und politisch Inhaftierten zuständig war.

Bärbel Große in der Mediothek der BBS II Göttingen 2014

Bärbel Große in der Mediothek der BBS II Göttingen 2014

Es dauerte nun noch gut fünf Monate bis Frau Große ihre Familie, ihren Mann und ihre zwei Kinder im Westen in Empfang nehmen konnte. Frau Große ist sich sicher:

“Es hat sich jeder Tag gelohnt, vor dem Mauerfall im Westen zu sein und dort leben zu dürfen. Ich hatte fünf Jahre Vorsprung! Die Freiheit eines jeden, ist das höchste Gut und sie ist nur in einer Demokratie möglich!” (Bärbel Große)

Lena, Helene, Johannes und Hauke

25 Jahre Mauerfall – Ein Rückblick auf die Außenseiter der DDR – STASI und Haft

Göttingen 2014 – »Anders sein. Außenseiter in der DDR« ist eine Themenreihe, die sich eine kleine Gruppe des Beruflichen Gymnasiums, kurz BGT, zur Aufgabe gemacht hat. Wir wollen hier kleine Artikel zu folgenden Themen veröffentlichen:

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Unser heutiger Artikel berichtet über:

Das traurige Leben der Melanie Kollatzsch

Melanie Kollatzsch besuchte zuletzt als Zeitzeugin 2011 die BBS II Göttingen. Die Schule zeichnete den Besuch auf. So dass für diesen Artikel das Rohmaterial vom Gespräch mit Melanie Kollatzsch zur Verfügung stand. Mit diesem Artikel wollen wir Melanies traurige Geschichte erzählen und zeigen, dass es den politisch Gefangenen der ersten Stunde nicht so gut ging, wie denen, die danach folgten.

Melanie erzählt sehr eindrucksvoll, wie man nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besatzungszonen lebte, welche Ungerechtigkeiten dort herrschten und für welche „Delikte“ man inhaftiert wurde – wer steht für solche Fragen heute noch zur Verfügung?

Gesicht zur Wand

Bei ihrem letzten Besuch sahen Schülerinnen und Schüler den Dokumentarfilm „Gesicht zur Wand“, der Melanie zeigt, wie sie Strafanstalten und Gefängnisse in der ehemaligen SBZ besucht und dabei erzählte, was ihr dort von 1947 bis 1962 widerfahren ist. Welche Ungerechtigkeiten sie als “Deutsche“ aus dem Rheinland ausgesetzt war und wegen welcher  Banalität sie inhaftiert und zuerst zum Tode verurteilt und später zu 25 Jahren Zwangsarbeit begnadigt wurde. Auch als 1949 aus der SBZ die DDR wurde, glaubte ihr niemand, dass sie ursprünglich als gerade Mal 19-Jährige nur zu Besuch in die SBZ gekommen war um ihren Eltern von ihrer Verlobung mit einem englischen Major zu erzählen. Selbst nach ihrer Haftentlassung 1962 gilt sie weiterhin als Klassenfeindin, als Verräterin.

Im Film sowie im anschließenden Gespräch stellt Melanie Kollatzsch eindrucksvoll die Nachkriegszeit, die Entstehung der SBZ bis zur DDR, das DDR-Regime im getrennten Deutschland sowie die Wiedervereinigung dar. Sie erzählt von den Schattenseiten und Ungerechtigkeiten der Nachkriegszeit, vom Polizeistaat DDR, in dem jeder jeden bespitzelte, so dass sich selbst gute Freunde misstrauten.

Verlorene Jugend

Nach eineinhalb Stunden sichten des Rohmaterials war mir klar, wie brutal Melanie Kollatzsch ihrer Jugend und sogar ihrer Liebe beraubt wurde. Als junge Frau kam Melanie 1947 in die SBZ zu Besuch zu ihren Eltern und wollte ihnen von ihrer Verlobung und anstehenden Hochzeit erzählen. Doch es kam alles anders. Wenige Tage in der SBZ wird Melanie wegen Spionage, Boykott-hetze und illegalem Grenzübergang von den russischen Besatzern verhaftet. Da sie als Dolmetscherin für Englisch arbeitete und auch so ihren Verlobten kennenlernte, der ein englischer Major war, wurde sie der Spionage bezichtigt. Die Russen interessierten sich nicht für ihre Belange und glaubten der jungen Frau im seidenen Sommerkleid nicht.

Kurz darauf wurde Melanie zunächst zum Tode und später von den abziehenden Russen begnadigt und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Sie saß drei Monate alleine in einer kleinen Zelle ohne Pritsche nur mit einer Decke und einem Eimer für die Notdurft. In den drei Monaten erhielt sie keine Möglichkeit sich zu waschen oder gar die Kleidung zu wechseln. Sie trug nach wie vor ihr seidenes Sommerkleid. Der Schock ihrer Inhaftierung und die Angst lies die Monatsblutung einstellen. Nach den drei Monaten übernahm eine erste deutsche Übergangsregierung die Macht in der entstehenden DDR. Melanie hatte Hoffnung, dass nun alles gut und der Fehler ihrer Inhaftierung erkannt würde. Doch nichts geschah. Im Gegenteil, die Interimsregierung war noch schlimmer als die Russen.

Bald kam Melanie in ein anderes Gefängnis, indem sie erstmals andere Kleidung bekam und sich waschen konnte. In insgesamt elf Gefängnissen in 15 ½ Jahren wechselte sie. Jedes war anders. In einigen war sie in Einzelhaft in anderen in kleinen Gruppen, was Melanie als angenehm empfand, da sie sich endlich mal austauschen konnte. Während ihrer Einzelhaft beschäftigte sie sich mit Rechenaufgaben, die sie sich selbst ausdachte, sang vor sich hin um ihr Gehör zu trainieren. In all den Jahren war es Melanie nicht möglich in einen Spiegel zu sehen, da in den meisten Gefängnissen kein Spiegel vorhanden war. So könnte sie die körperlichen Veränderungen nicht nachvollziehen und erschrak als sie sich zum ersten Mal nach gut zehn Jahren im Spiegel sah. Aus dem damals jungen 19-jährigen Mädchen war nun eine Frau von gut 30 Jahren geworden.

An dieser Stelle fragt man sich wirklich:

Wie können Menschen, Menschen so etwas antun? (Bärbel Große)

Auch erlebte Melanie den 17. Juni 1953 in Haft. Ihre Zelle wurde für gut einen Tag aufgeschlossen, doch die Angst ließ sie die Zelle nicht verlassen. Am nächsten Tag wurde sie wieder versperrt und es war alles wie gehabt. Außer dass das Gefängnis auf einmal überfüllt war mit neuen politischen Gefangenen, die am 17. Juni auf die Straßen gegangen waren.

Tragisch für Melanie war ihre vorzeitige Entlassung im Jahre 1962 genau nach dem Mauerbau. Melanie beschreibt die Entlassung aus dem Gefängnis als eine Entlassung in ein viel größeres Gefängnis, so empfand sie die DDR. In all den Jahren nach ihrer Entlassung war die STASI immer an ihren Fersen. Sie führte in all den Jahren kein normales Leben. Auch ging sie nie eine Beziehung ein.

Melanie beschreibt den Mauerfall 1989 als Erlösung und wirkliche Freiheit. Endlich kam sie wirklich frei und konnte ihr Leben in echter Freiheit leben. Sie ist daher ein wahrer Freund der Demokratie und freiheitlichen Selbstverantwortung. „Unsere Freiheit ist ein hohes Gut, das es zu verteidigen gilt.“

2011 Melanie Kollatzsch

2011 Melanie Kollatzsch in der BBS II Göttingen – Mensa

Zwei Zitate möchte ich an dieser Stelle auch noch anbringen:

„Ich hasse heute nicht so sehr, wie ich gewisse Personen verachte. Aber ihnen nun das gleiche anzutun, ist auch nicht mein Charakter.“

„Ich besuche Schulen und stehe für Demokratie und Freiheit, weil ich nicht will das Diktaturen entstehen egal welcher Color, ob rot, braun, schwarz oder sonst wie. Sie führen immer zu Hass- und Unrechtsurteilen. Wer in einer Demokratie schläft, wird in einer Diktatur aufwachen! Seid wachsam und tretet für mehr Demokratie und Freiheit ein.“

Ich war fasziniert und erschüttert zugleich vom Rohmaterial und vom Leben der sympathischen alten Dame. Wir dürfen auch diese Seite der DDR nicht vergessen. Es war nicht alles gut.

Torben